Dienstag, 8. Mai 2012

Die Fabel von der unsterblichen Fliege

1. Dorians Leben, Dorians Streben

Es lebte einst,
der Fliegrich Dorian,
mit Frau und Maden auf dem Lande.

Der Misthaufen
des Bauern Florian,
war ihm zuteil nach seinem Stande.

Die andern Fliegen
 schauten neidisch drein,
als sie den Misthaufen erblickten.

Der Mist im Hof,
er roch für Fliegen fein,
gleich in dipterischen[1] Gedichten.

Ein Luxusleben
führte Dorian,
verglichen mit urbanen Fliegen.

Und doch war Dorian
wohl schlimmer dran,
er wollte mehr und konnt’s nicht kriegen.

Der Fliegrich Dorian
liebte das Leben,
            richtete alle Kraft
und all sein Streben

auf die Unsterblichkeit,
ihm sei vergeben,
ein Stück der Ewigkeit,
wer wollt`s nicht mögen?


2. Das goldene Ährenkorn


Es funkelte
im Mist ein Ährenkorn,
riss Dorian aus seinem Traume.

„Oh, Ährenkorn,
oh geh mir nicht verlorn!“
rief Dorian herab vom Baume.

Im Eilflug stürzte
sich der Fliegerich
auf die begehrte Funkelquelle.

Er griff danach,
doch war das Stemmgewicht
zu schwer für Fliegenarm und Elle.

Von Gier gepackt,
verscharrte Dorian
den goldnen Schatz unter dem Kuhmist.

Danach markierte
er mit Adlerfarn
das goldne Korn im Dung voll Hablist.

 Der Fliegrich Dorian
liebte das Leben,
            ein goldnes Ährenkorn
ließ ihn erbeben.

Aus Furcht vor Korndiebstahl,
hat er’s vergraben,
um sich am Glückesfall
allein zu laben.

 
3. Des Ährenkorns Offenbarung


Mit strengem Blick
bewachte Dorian,
zu allen Tag- und Nachtesstunden.

Den Misthaufen
des Bauern Florian,
zum Schutz  des Korns vor Vagabunden.

Am nächsten Tag,
geschützt vom Morgengraun,
begab sich Dorian zum Schatze.

Er scharrte Mist,
um nach dem Korn zu schaun,
als ihm erschien Stomoxys[2] Fratze.

„Dorian, 
heute bist du glücklich dran“,
tönte der Geist mit dumpfer Stimme.

„Tritt heran, 
sage mir den Wunsche an,
der dich betrübt, dir schwärzt die Sinne.“

Der Fliegrich Dorian,
            konnt’ es nicht fassen.
            Ein banger Fiebertraum,
            ließ ihn erblassen.

Der Geist dort sprach zu ihm
            und schien zu wissen
            von Fliegrich Dorians
            innerstem Missen.


4. Dorians Antwort

             
Dorian stockte,
hielt den Atem an,
duckte sich weg vor dem Stomoxys,

murmelte leise
seinen Wunsch ihm dann,
merklich bedrückt nun von Besorgnis:

„Stomoxys,
mächtiger Dipterengeist[3],
mein Wunsch ist groß, klein sind die Taten.

Soviel du auch,
von meinem Innern weißt,
wirst du mein Streben kaum erraten.

Was ich begehr’,
ist die Unsterblichkeit
für mich, mein Weib und meine Maden.

Von heute an,
bis in die Ewigkeit,
möcht ich an Lebenslust mich laben.“

Der Fliegrich Dorian
liebte das Leben,
            richtete alle Kraft
und all sein Streben

auf die Unsterblichkeit,
ihm sei vergeben,
ein Stück der Ewigkeit,
wer wollt`s nicht mögen?


5. Stomoxys belehrt Dorian


„Das Ewige,
mein lieber Dorian,
ist nur Idee“, sagte Stomoxys.

„Mancher sucht
danach ein Leben lang,
doch wer viel sucht, der findet gar nichts.

Wer lange lebt,
dem wird das Leben fad,
denn nichts schützt ihn vor Schmerz und Sorgen.

Was du begehrst,
scheint mir von andrer Art,
du willst die Herrschaft übers Sterben.

Drum lebe nun,
solang du leben magst
mit Frau, Kokons und Fliegenmaden.

Wenn du dann
an der Ewigkeit verzagst,
darfst du samt Brut dem Sein entsagen.“

Der Fliegrich Dorian
            hüpfte vor Freude.
            Sein Wunsch erfüllte sich.
            Das Weltgebäude

erschien im grenzenlos.
            Er wollt’s erkunden.
            Stomoxys schenkte ihm
            dazu die Stunden.
           


6. Glückliche Stunden?


Von Dorian
            fielen die Sorgen ab
und seine Fliegenbrut wuchs täglich.

Weil kein Kind mehr
            durch Wechselfälle starb,
schrumpfte der Platz jedoch unsäglich.

Der Misthaufen
            des Bauern Florian
löste sich auf im Fliegenschwarme.

Der Dung verschwand
und unsern Dorian
würgten des Hungers kalte Arme.

Die schwere Last
            seiner Nachkommenschaft
zerquetschte Dorian die Glieder.

Stomoxys Geist
            hatte ihn abgestraft,
nun ward sein Leben ihm zuwider.

Der Fliegrich Dorian
            hasste das Leben.
Er misste alle Kraft
und alles Streben.

Die Lust auf Ewigkeit
            war im vergangen.
            Sein unbescheidner Wunsch
            war ihm vergangen.
 

7. Das Ende


Der Fliegerich
            bezahlte bitterlich
für seinen Wunsch nach ewgem Leben.

Inzwischen war
            die Welt gar schauerlich
bedeckt von Dorians Bluterben.

Wer unten war,
            den drückte das Gewicht
der jüngeren Generationen.

Vom Schmerz gebeugt
            wünschte sich Dorian
im Land der Toten nun zu wohnen.

Mit Donnerhall
            erfüllte sich sein Wunsch
und alle Stubenfliegen starben.

Die Welt war frei
            und wir erinnern uns:
die Gier verwischt des Lebens Farben.

Der Fliegrich Dorian
liebte das Leben,
            richtete alle Kraft
und all sein Streben

auf die Unsterblichkeit,
ihm sei vergeben,
ein Stück der Ewigkeit,

wer wollt`s nicht mögen?



Entomologisches Nachwort

„Würden sämtliche Kinder
und Kindeskinder eines Hausfliegenpaares
überleben, dann entstünde nach einem Jahr eine Fliegenkugel
von 149,6 Millionen Kilometer Durchmesser –
das entspricht der Entfernung zwischen Sonne und Erde.“

Christopher O’Toole, britischer Entomologe


[1] Diptera = Zweiflügler, Insektenordnung der Fliegen
[2] Stomoxys = Fliegengattung der Wadenstecher, ähnlich
Stubenfliege, jedoch mit Stechrüssel
[3] Vgl. Fußnote 1

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